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Psychisch, psychosomatisch, psychogen…
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…alles nur ein und dieselbe Psychoschiene?
Jeder Schmerzpatient kennt es, jeder in der Schmerztherapie Tätige kennt es auch: Die Psyche spielt immer eine Rolle. Klar, jahrelang mit Schmerzen durch die Welt zu laufen, dass macht einen schon mürbe, kein Wunder, dass man da auf die Dauer depressiv wird. Aber so ist das halt, wenn einem keiner helfen kann. Und die Ärzte? Ach, die wollen ja nicht, wenn die nicht mehr weiter wissen, dann schieben sie einen auf die Psychoschiene! Dabei hab‘ ich es doch im Rücken und nicht im Kopf! Ich bin doch nicht verrückt!! Ich bilde mir meine Schmerzen doch nicht ein!!!
Solche oder ähnliche Aussagen von Schmerzpatienten hören wir täglich mehrmals, teils sind die Klagen berechtigt, teils nicht, zugegeben, für die meisten Menschen gehören körperliche Schmerzen zunächst grundsätzlich auch zu einem körperlichen Leiden, der Schmerz ist halt Symptom einer Erkrankung, wenn diese geheilt wird, geht der Schmerz auch weg. Das psychische Prozesse auch körperliche Schmerzen bereiten können, das erscheint so ohne weiteres nicht plausibel. Was hat die Psyche schon mit Rücken, Darm, Schulter oder Unterbauch zu tun.
Das bio-psycho-soziale Modell
Der chronische Schmerz ist ein mehrdimensionales Ereignis, er ist körperliche Schmerzempfindung und psychisches Schmerzleiden in einem. Er ist eine eigenständige Erkrankung, die den „Regeln“ eines bio-psycho-sozialen Modells folgt, will sagen: am Anfang war da mal ein akuter Schmerz, der wurde im Laufe der Zeit immer schlimmer, dabei hat er den Betroffenen in seiner psychischen und sozialen Konstitution verändert, was wiederum den Schmerz verstärkt, was wiederum Psyche und soziales Leben negativ beeinflusst usw. usw.
Im Laufe der „Schmerzpatienten-Karriere“ lernt man schon, dass Schmerzen die Psyche verändern können, Ärzte erklären diese Zusammenhänge, sprechen von „psychischen Überlagerungen“, erwähnen „reaktive Depressionen“ dass klingt dann auch alles ganz plausibel und die Patienten akzeptieren schließlich auch eine Mitbeteiligung der Psyche, und vielen ist damit sehr geholfen, entdecken sie bei der Gelegenheit doch, dass die Psyche neben negativen Erschwernissen auch so manche positive Ressource bereithält, mit der dann auch Erfolg versprechend an der Schmerzbewältigung gearbeitet werden kann. Und in so genannten multimodalen Therapie-Ansätzen, die neben der körperbezogenen medizinischen Kunst auch die psychischen Anteile des Chronifizierungsgeschehens berücksichtigen, gelingen dann häufig unglaubliche Rehabilitationen, Erfolge, die weder Arzt noch Patient für möglich gehalten haben.
War es nun eine psychische Grunderkrankung? Nein! War’s eine psychosomatische Erkrankung? Auch nicht so richtig, obwohl andere psychosomatische Krankheitsbilder ebenfalls den Gesetzen des bio-psycho-sozialen Modells folgen. Es war halt eine multifaktorielle Chronifizierungsspirale, in der auf dem Weg nach unten alle Faktoren die weitere Verschlechterung aller Faktoren bedingte. Bei therapeutischem Erfolg ist es müßig darüber zu rätseln, welche Intervention in der Lage war, diese Spirale zu durchbrechen. Wichtig ist, dass der Betroffene auf dem Weg nach noch weiter unten plötzlich in der Lage ist umzukehren.
Was sind dann aber psychosomatische Krankheitsbilder?
Unter Psychosomatik im eigentlichen Sinne versteht man die Lehre von den wechselseitigen Beziehungen zwischen Körper (= Soma) und Seele (= Psyche) hinsichtlich der Ursachen einer Krankheit (= Ätiologie), der Entwicklung einer Krankheit (= Pathogenese), dem Verlauf und der Behandlung dieser Krankheiten. Als psychosomatische Krankheiten gelten unter anderem: Essstörungen (Anorexia nervosa, Bulimia nervosa), Asthma bronchiale, Zwölffingerdarmgeschwür (Duodenalulkus), chronisch entzündliche Darmerkrankungen, Fibromyalgie, koronare Herzerkrankung usw. usw.
All diese Erkrankungen gehen nicht notwendigerweise mit schmerzen einher, sie gehorchen aber – wie der chronische Schmerz auch – den Regeln des bio-psycho-sozialen Modells. Wie auch beim chronischen Schmerz stehen hier mit dem ersten Auftreten körperliche Symptome im Vordergrund, die auch konsequent behandelt werden müssen. Schließlich gilt es, den Körper von Magersüchtigen vor schlimmerem Schaden zu bewahren, Geschwüre an Magen oder Darm am Durchbruch zu hindern oder dem Herz den Infarkt zu ersparen. Ohne aber der mitleidenden Psyche der hinter diesen Symptomen anzutreffenden Betroffenen gleichfalls zur Hilfe zu eilen, wird sich kein dauerhafter Effekt auf die körperlichen Symptome erzielen lassen. Daher besteht die Therapie dieser psychosomatischen Erkrankungen im Idealfall aus zum Beispiel einer kombinierten medizinisch-psychotherapeutischen Behandlung. Die Struktur der Probleme psychosomatischer Erkrankungen sollte Schmerzpatienten also eigentlich bekannt vorkommen.
Ist psychogen dasselbe wie psychosomatisch?
Psychogene Schmerzen, also Schmerzen, die rein von unserer Psyche unterhalten werden, ohne dass ein körperliches Leiden vorhanden ist, sind gewissermaßen ein „Erinnerungssignal“, um uns auf unverarbeitetes vergangenes oder gegenwärtiges Leid aufmerksam zu machen. Meistens ist es sogar eine Mischung von beidem, denn häufig bedarf es eines zweiten Traumas, um die „ganze Katastrophe“ loszutreten. Der Ursprung, das vergangene Leid, wird von vielen Patienten noch ganz gut verkraftet (nicht bewältigt!!). Gut verpackt in den dunklen Hallen unseres immer währenden Gedächtnisses ruht es in Frieden. Erst ein zweites Trauma, oftmals noch nicht mal ein Dramatisches, setzt plötzlich die ganze zerstörerische Kraft einer längst vergangenen und scheinbar vergessenen Krise frei. Diese Kraft kommt daher in der perfekten Tarnung einer körperlichen Störung, nicht selten in Form von rätselhaften Schmerzen. Der Mensch somatisiert seine seelische Pein. Es ergibt sich kein Wechselspiel zwischen Körper und Seele, so wie bei den psychosomatischen Krankheitsbildern, sondern eine ausschließlich von der geschundenen Seele/Psyche genährte ständige Verschlechterung des Krankheitsbildes. Und es sind leider die eigentlich zweitrangigen körperlichen Symptome, die zunächst den Ursprung des Problems verschleiern. Der Durchschnittsarzt, egal welcher Fachgruppe, folgt zunächst dem geschilderten körperlichen Symptom und findet – nichts, oder bestens Zufallsbefunde, die im Laufe der Zeit auch nichts Spezifisches ergeben.
Die vielleicht dennoch eingeleitete symptomatische Therapie, egal welcher Art, erbringt entweder – nichts, oder geringe Besserungen, die nach etwa drei Monaten wieder verschwinden. Der Wechsel zwischen den klinischen Fachgebieten verläuft nach dem gleichen Schema. Es versagen der Reihe nach erst die Hausärzte, dann die Internisten, Neurologen, Orthopäden usw. usw.. Und wenn dann noch ein operativ tätiges Gewerk dazukommt, dann steht ab da noch eine weitere Verschlechterung der Situation ins Haus. Am Ende dieser Entwicklung steht dann im Idealfall die Diagnose: „somatoforme Schmerzstörung“, wobei diese Diagnose oftmals auch nicht nach den an sich gut definierten Kriterien für dieses Krankheitsbild getroffen wird, sondern bestenfalls eine Verkleisterung anamnestischer Unfähigkeiten bedeutet. Nicht selten heißt es: „Muss wohl doch psychisch sein“ „tut mir leid, wir können nichts mehr für sie tun“ oder lapidar: „austherapiert“.
Dabei ließen sich diese psychogenen Krankheitsbilder eigentlich deutlich früher erkennen, wenn man nur danach suchen würde, wenn man mehr Zeit auf die Anamnese einer Krankengeschichte verwenden würde und wenn die Betroffenen dies zuließen, psychogene Schmerzbilder sind chronische Schmerzerkrankungen wie andere auch, nicht besser und nicht schlechter, sie haben ihr eigenes Erscheinungsbild, sie haben ihre eigenen Chronifizierungsmechanismen, sie haben ihre eigenen Therapieerfordernisse, genau wie alle anderen Schmerzerkrankungen auch. Da ist nichts Eingebildetes, kein Verrücktsein, nichts wofür man sich schämen müsste. Aber dennoch sind die Betroffenen häufig bereit, bis zur letzten Lebensfaser dieses zu verleugnen, ständig bemüht, sowohl Diagnostik als auch Therapie wieder auf die körperliche Ebene zu lenken, und es wird ihnen leicht gemacht, da die Fachärzte der üblichen klinischen Fachgebiete immer wieder gerne den Weg einer rein am Körper orientierten Diagnostik beschreiten, warum eigentlich? Logisch lässt sich das nicht erklären, vielleicht ist es ja auch Bestandteil der Erkrankung!
Diagnostiziert werden psychogene Schmerzkrankheiten leider meist nur im so genannten Ausschlussverfahren, in dem der Arzt primär und immer wieder nach körperlichen Ursachen forscht, um sie anschließend als „negativ“ verwerfen zu müssen. Es wäre aber nötig, und wie schon gesagt auch möglich, positive Kriterien zu definieren, denn der psychogene Schmerz stellt nun mal ein eigenes klinisches Phänomen dar.
Während einer Tagung in einer Stuttgarter psychotherapeutischen Klinik unternahmen Experten den Versuch, vor diesem Hintergrund die einzelnen Merkmale des psychogenen Schmerzes aufzuzeigen:
- Psychogener Schmerz ist besonders intensiv. Entsprechend dramatisch und mit oft aggressiven Bildern beschreiben ihn die Patienten: „wie wenn jemand meinen Rücken durchbohrt“, „wie wenn jemand mit einem heißem Messer meine Haut aufschneidet“, „wie wenn jemand mir den Arm ausrenkt“. Damit erzählen die Patienten verschlüsselt traumatische Beziehungsgeschichten, illustrieren gewissermaßen ihr Trauma.
- Gleichzeitig verwischen sie die authentische Erinnerungsspur. Der Schmerz nötigt die Betroffenen hartnäckig, auf einer organischen Ursache zu bestehen und nach drastischen Eingriffen zu verlangen. Die Patienten schwanken zwischen wissen und Nichtwissen, Klagen und Resignieren, sie veröffentlichen und verbergen zugleich ihre schmerzhaften Erfahrungen.
- Dieses Hin- und Hergerissensein wird auch in der neurologischen Untersuchung deutlich: eine Mischung aus Schmerzüberempfindlichkeit und -unempfindlichkeit ist charakteristisch.
- Psychogene Schmerzen sind nur scheinbar anatomisch konform lokalisiert, strahlen aber unanatomisch aus. Das heißt: sie werden in andere Körperregionen projiziert, die gegebenenfalls den unbewussten Erinnerungen entsprechen können, zum Beispiel bei erlittenen sexuellen Übergriffen in die Leiste oder den Unterbauch.
- Psychogene Schmerzen haben die Tendenz, sich schubweise auszuweiten. Häufig geschieht dies im Anschluss an neue, persönliche biografische Traumata und/oder durch den Arzt (iatrogen) verordnete weitere invasive Verfahren (Verletzungen!!) wie Spritzen oder Operationen.
- Psychogene Schmerzen reagieren anfangs gerne auf Medikamente mit eher zentralnervösem Wirkmechanismus. Opioide, Schlafmittel, Beruhigungsmittel und bestimmte Anti-Depressiva haben anfangs eine recht gute Wirkung, es kommt aber schnell zu Dosissteigerungen, dann zu weiterem Wirkverlust oder aber auch zu Medikamentenunverträglichkeiten.
- Psychogene schmerzen dauern an bis Trauma, Affekt oder Konflikt in einer Psychotherapie erinnert, wiedererlebt und verstanden wird. Analgetika und Psychopharmaka wirken deshalb nicht oder nur vorübergehend, Operationen verschlimmern die Schmerzen. Mittel der Wahl sind dagegen eine eingehende Anamnese und gründliche körperliche Untersuchung, Physiotherapie, Entspannung und vor allem eine geeignete Psychotherapie.
- Neben diesen generellen Eigenheiten psychogener Schmerzerkrankungen sind zusätzlich weitere spezifisch diagnostische Hinweise zu beobachten:
- Depressive Patienten geben anhaltende, diffuse, brennende, sich kontinuierlich ausbreitende Schmerzen an.
- Angstpatienten wiederum berichten über unruhig-vibrierende wechselnde Schmerzen mit Parästhesien, die sich sprunghaft multilokal am Körper ausbreiten oder symmetrisch aufsteigen und oft mit Schwindel einhergehen; hierzu gehören viele fälschlicherweise als „Weichteilrheuma“ oder „Fibromyalgie“ bezeichnete Beschwerden.
- Histrionische Konversionsschmerzen verschlimmern sich Anfallsweise, und die Patienten verwenden gern anorganische Bilder das Bein fühle sich hölzern an oder wie ein Klumpen, der Rücken wie Beton.
- Zwangspatienten schließlich charakterisieren ihren Schmerz als Druck und verlagern ihn meist in obere Körperregionen: Nacken, Kopf, Gesicht oder Kiefer.
Fazit:
Psychosomatische und psychogene Schmerzerkrankungen sind keine Seltenheit. Die korrekten Diagnosen sind keine Schande, sondern Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie. Leider werden diese Krankheitsbilder immer noch nach dem Prinzip der Ausschlussdiagnostik quasi eingekreist, was eine vertiefende Chronifizierung begünstigt und die Therapie im Umkehrschluss erschwert. Eine gezieltere positiv forschende psychotherapeutische/ psychiatrische Diagnostik zu einem früheren Zeitpunkt wären für eine effektive Therapie nötig, um jahrzehntelanges Chronifizieren und das damit verbundene unnötige Leiden zu verhindern.