Heranwachsende, bei denen man das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom diagnostiziert hat (adhs), haben tatsächlich abweichende Gehirnstrukturen und schneiden in Gedächtnistests meist schlecht ab, verglichen mit anderen Jugendlichen im gleichen Alter. Das ermittelte eine Studie, durchgeführt an der Universität Cambridge, UK, in Kooperation mit einem Team von der Universität Oulu, Finnland.
Die Ergebnisse wurden in einer Fachzeitschrift für europäische Kinder- und Jugend-Psychiatrie publiziert. Sie legen nahe, dass die Charakteristika von adhs möglicherweise auch im Erwachsenenhalter weiter bestehen, auch wenn die aktuell verfügbaren Diagnosemethoden die Störung nicht identifizieren können.
adhs ist gekennzeichnet durch eine sehr kurze Aufmerksamkeitsspanne, Ruhelosigkeit und Impulsivität. Normalerweise wird die Störung in der Kindheit oder im jugendlichen Alter festgestellt. Schätzungen zu Folge sind drei von hundert Jungen und maximal ein von hundert Mädchen betroffen. Noch weniger ist bekannt über das Weiterbestehen der Erkrankung im Erwachsenenalter – auch hier wird geschätzt, dass 10 bis 50% der betroffenen Kinder auch später noch Symptome zeigen. Die Diagnose im Erwachsenenstadium noch abhängig von reinen Symptom-Checklisten etwa aus dem Diagnose– und Statistik-Handbuch der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung.
Einige Spekulationen besagen, dass das Gehirn sich mit fortschreitendem Alter weiterentwickelt und Kinder aus der Störung quasi „herauswachsen“, doch bis jetzt existieren nur wenige Beweise dafür, dass dem tatsächlich so ist. Bislang bestand ein Großteil der Forschung auf diesem Gebiet darin, dass man Kindern und Jugendlichen mit adhs hauptsächlich mit Hilfe von Fragebögen folgte. Fragen nach der Gehirnstruktur und Gehirnfunktion blieben unbeantwortet.
Die Teams der Universitäten Cambridge und Oulu verfolgten die Laufbahn von 49 Erwachsenen, die im Alter von 16 die Diagnose adhs erhalten hatten. Dabei wurden ihre Gehirnstruktur und ihre Gedächtnisleistung im jungen Erwachsenenalter zwischen 20 und 24 Jahren untersucht und mit den Daten einer Kontrollgruppe von 34 weiteren jungen Erwachsenen verglichen. Die Untersuchung basierte auf den Daten der Nord-Finnischen Alterskohorte von 1986. Dabei waren tausende von Kindern aus dem Jahrgang 1986 von der Schwangerschaft bis zur Geburt und bis ins jugendliche Alter untersucht. Die Resultate zeigen, dass die Gruppe, bei der adhs diagnostiziert worden war, auch im Erwachsenenalter noch Probleme hatte: Das Gehirnvolumen war reduziert, die Gedächtnisleistung schwächer als die in der Vergleichsgruppe, unabhängig davon ob auf die Testpersonen die Kriterien der diagnostischen Checkliste für adhs zutrafen oder nicht.
Man untersuchte die Bilder der Magnetresonanztomographie vom Gehirn (MRI) und verglich sie mit denen der Kontrollgruppe. Dabei entdeckten die Wissenschaftler, dass die Erwachsenen, bei denen früher adhs festgestellt worden war, dass eine bestimmte Kern-Region im Gehirn, die „graue Gehirnmasse“ im Nucleus Caudatus wesentlich kleiner war. Diese Region im Kerngebiet des Endhirns sorgt für die Informationsverarbeitung und unterstützt wichtige kognitive Funktionen, unter anderem das Gedächtnis.
Um zu untersuchen, ob diese Defizite in der Grauen Masse nun bedeutsam wären oder nicht, führten die Forscherteams ein funktionelles MRI-Experiment durch, bei dem die Gehirnaktivität gemessen wurde – bei 21 der Testkanditaten war früher adhs festgestellt worden, im Gegensatz zu 23 Kontroll-Probanden, während beide Gruppen im Scanner einen Gedächtnistest durchführten.
Ein Drittel der Erwachsenen mit früherer adhs-Diagnose fielen durch den Gedächtnistest, verglichen mit weniger als einem von 20 aus der Kontrollgruppe. Auch diejenigen aus der adhs-Gruppe, die den Test bestanden, schnitten um sechs Prozentpunkte schlechter ab als die Teilnehmer der Kontrollgruppe. Die schlechten Ergebnisse des Tests korrespondierten im MRI mit einer mangelhaften Aktivität im Nucleus Caudatus. In der Kontrollgruppe wurde diese Gehirnregion umso aktiver, je kniffliger die Gedächtnisfragen sich gestalteten – das schien den Erfolg im Test zu beeinflussen. In der erwachsenen adhs-Gruppe blieb dagegen die Aktivität des Nucleus Caudatus während des gesamten Tests konstant.
Zwischen den jungen Erwachsenen, auf die noch die Diagnose adhs zutraf und denen, die die diagnostischen Kriterien nicht mehr erfüllten, bestand in diesem Test letztlich kein Unterschied.
Dr. Graham Murray von der Psychiatrischen Abteilung der Universität Cambridge, der die Untersuchung leitete, sagt dazu: “Wenn die Testfragen schwieriger wurden, schaltete der Nucleus Caudatus einen Gang höher in seiner Aktivität – und das schien beim Lösen der Gedächtnis-Aufgaben zu helfen. In der Gruppe, in der man adhs anhand des bisherigen Kriterien-Kataloges festgestellt hatte, ist diese Region im Gehirn wesentlich kleiner und ist offenbar nicht in der Lage, sich wachsenden Anforderungen ans Gedächtnis anzupassen. Mit dem Resultat, dass die Gedächtnisleistung als solche schwach ausfällt.“
Er führt weiter aus:
„Wir wissen, dass ein gutes Gedächtnis bei einer ganzen Reihe anderer mentaler Prozesse eine wichtige Rolle spielt. Gedächtnisprobleme behindern mit Sicherheit eine Menge Menschen bezüglich ihrer Ausbildung und ihren Chancen im Arbeitsleben. Der nächste Schritt unserer Forschungen wird sein, zu untersuchen, ob diese Unterschiede in der Gehirnstruktur und in der Gedächtnisfunktion tatsächlich mit Schwierigkeiten im Alltagsleben gekoppelt sind, und vor allem, ob sie möglicherweise auf eine Therapie ansprechen.“
Die Tatsache, dass die Studie in Finnland durchgeführt wurde, wo nur selten Medikamente gegen adhs zum Einsatz kommen, bedeutete, dass nur einer der 49 mit adhs diagnostizierten jungen Menschen jemals Medikamente zur Behandlung der Störung erhalten hatte. Das wiederum heißt, dass im Test selbst Medikamente als beeinträchtigender Faktor vollkommen auszuschließen waren.
Aktuell konzentriert sich die “Heilung” von ADHS darauf, ob die Patienten weiterhin bestimmte Kriterien einer Checkliste erfüllen. Diese Untersuchung weist jedoch darauf hin, dass objektive Messungen der Gehirnstruktur und Gehirnfunktion möglicherweise auch im späteren Leben von der anderer Gehirne abweichen. Das wiederum bedeutet, dass adhs möglicherweise eingehender untersucht werden muss.