Eine dramatische Untersuchung zeigte, dass während einer Schwangerschaft häufig Zellen vom Fötus durch die Plazenta wandern und sich an vielen Stellen im mütterlichen Körper festsetzen. Dort können sie zur Gesundheit der Mutter langfristig betragen – oder diese unterminieren.
Die Existenz von fötalen Zellen im mütterlichen Gewebe ist als Mikroschimärismus bekannt. Die Bezeichnung ist angelehnt an die Schimären aus der griechischen Mythologie – zusammengesetzte Lebewesen aus den Teilen unterschiedlichster Tiere, wie die Ziegen-Löwen-Schlange, die in einer etruskischen Bronzeskulptur dargestellt wurde.
Nach Amy Boddy, einer Forscherin an der Arizona State University in der Fakultät für Psychologie und leitende Autorin einer neuen Studie, existieren Schimären. Viele Menschen tragen schimärische Züge in Form von Fremdzellen von Eltern, Verwandten oder Nachkommen in sich, die während einer Schwangerschaft aufgenommen wurden.
„Fötale Zellen können sich wie Stammzellen verhalten und sich zu Epithel-Zellen entwickeln, beispielsweise spezialisierten Herz– oder Leberzellen. Das zeigt, dass sie hochdynamisch sind und eine wichtige Rolle im mütterlichen Körper spielen können. Sie können sogar ins Gehirn wandern und sich dort in Nervenzellen verwandeln, “ berichtet Boddy. „So gesehen, sind wir sind alle Schimären.“
Gemeinsam mit Kollegen aus Laboratorien für Biodesign, Experten für Evolution und Medizin und der psychologischen Fakultät führte Boddy die aktuelle Untersuchung mit erstaunlichen Ergebnissen durch.
Bei Säugetieren und Menschen ist der Fötale Mikroschimärismus gang und gäbe. Doch unter Biologen sind seine Auswirkungen auf die mütterliche Gesundheit heftig umstritten und bislang kaum erforscht.
Boddy und Kollegen analysierten zunächst die vorhandene Literatur über den Fötalen Mikroschimärismus.
Die Studien-Autorin nimmt an, dass sich Fötalzellen nach einer Abwanderung durch die Plazenta selbst wie eine Art externe Plazenta verhalten und zunächst essentielle Nährstoffe vom mütterlichen Körper zum sich entwickelnden Fötus leiten. Zellen, die dem Fötus entstammen, können noch Jahrzehnte nach der Geburt des Kindes im mütterlichen Gewebe bleiben. Sie können sowohl schützen als auch die Empfänglichkeit für eine ganze Reihe von Beschwerden und Krankheiten erhöhen, darunter Krebs und Autoimmunerkrankungen wie rheumatoide Arthritis.
Doch, wie Co-Autor Wilson Sayres anmerkt, „Es besteht kein beständiger Krieg zwischen mütterlichen und fötalen Interessen. Das mütterliche System hat den Drang, zu überleben und Nährstoffe für den Fötus zur Verfügung zu stellen – ebenso möchte das fötale System überleben und seine dna weitergeben.“
Immerhin muss sich im Laufe der Evolution der Fötale Mikroschimärismus als wichtig und positiv für das Überleben der Art erwiesen haben.
Die Untersuchung bestehender Daten zu dem Phänomen und dem Gesundheitsstatus legt nahe, dass fötale Zellen in einem Teil des mütterlichen Gewebes kooperieren, in anderen Strukturen in einen Wettbewerb um Nährstoffe eintreten und an wieder anderen Orten als neutrale Einheiten völlig unabhängig existieren – wie Anhalter, die nur eine kurze Strecke mitfahren. Diese Rollen können zu unterschiedlichen Zeiten auch unterschiedlich besetzt sein.
So können Fötale Zellen beispielsweise an Entzündungsprozessen und Autoimmunreaktionen im Körper der Mutter beteiligt sein, wenn sie vom mütterlichen Immunsystem als Fremde identifiziert werden. Das könnte zu der höheren Rate von Autoimmunerkrankungen bei Frauen beitragen. Tatsächlich leiden Frauen etwa dreimal häufiger an rheumatoider Arthritis als Männer.
Fötale Zellen können dem mütterlichen Organismus aber auch Gutes tun – sie können zu beschädigtem Gewebe wandern und dort zur Reparatur beitragen. Ihre Präsenz in Wunden – einschließlich eines Kaiserschnittes – weist auf ihre aktive Beteiligung an Heilungsprozessen hin. In anderen Fällen werden fötale Zellen lediglich durch den Blutkreislauf in Organe wie die Lunge geschwemmt, wo sie völlig neutral „mitlaufen“.
Das Forscherteam versuchte zwischen Kooperation und Konflikt zu unterscheiden und war schließlich in der Lage, die jeweiligen Auswirkungen auf die mütterliche Gesundheit recht genau vorherzusagen.
Wendeten sie die „Evolutionstheorie“ an, führt das dazu, dass Fötale Zellen kooperierten, um die mütterliche Gesundheit zu stärken, wenn der ökonomische Aufwand dabei für die fötalen Zellen gering ist, beispielsweise bei der Gewebeerhaltung. Ist der Aufwand für die fötalen Zellen hoch, müssen sie etwa begrenze Ressourcen zwischen Mutter und Fötus teilen, tritt eine Konkurrenzsituation ein, die einem von beiden schaden kann.
Fötale Zellen wurden bei über der Hälfte aller getesteten Frauen im Brustgewebe gefunden. Die Milchproduktion ist wichtig, aber sehr energieaufwändig für die Mutter und erfordert subtile Regulation. Mangelnde Milchproduktion, die recht häufig vorkommt, könnte mit einer sehr niedrigen Anzahl an Fötalzellen im Brustgewebe zusammenhängen. Die Hypothese besagt, dass ein einfacher, nicht-invasiver Test zur Ermittlung der Fötalzellen-Anzahl in der Milch die Bedeutung der Fötalzellen auf die mütterliche Verfassung nachweisen könnte.
Fötalzellen sind generell seltener im Brustgewebe von Frauen mit Brustkrebs vertreten, im Vergleich zum Bestand im Gewebe gesunder Frauen. Das lässt vermuten, dass sie eine schützende Rolle spielen. Allerdings gibt es auch Hinweise darauf, dass Fötalzellen das Risiko von Brustkrebs in den Jahren unmittelbar nach einer Schwangerschaft erhöhen.
Die Schilddrüse erfüllt wichtige regulative Funktionen während der Schwangerschaft. Auch hier finden sich Fötalzellen und sorgen dafür, dass der Fötus ausreichend mit Körperwärme versorgt wird – auf Kosten des Energiehaushaltes der Mutter.
Bei Frauen mit Schilddrüsenerkrankungen wie etwa dem Hashimoto-Syndrom oder Schilddrüsenkrebs finden sich mehr Fötalzellen im Blut und im Schilddrüsengewebe als bei gesunden Frauen. Möglicherweise löst der mütterliche Organismus in der “Auseinandersetzung” mit den Fötalzellen bedenkliche Autoimmun- und Entzündungsreaktionen aus.
Die Auswirkungen von Fötalzellen auf die menschliche Gesundheit sind vielfältig. Möglicherweise greifen sie sogar auf Neural-Pfade zu, beeinflussen Emotionen und Verhalten sowie die Ausschüttung von Oxytocin, einem Hormon, das die emotionale Bindung zwischen Mutter und Kind steuert.
Aber auch Morgen-Übelkeit, Postnatale Depression oder ein früheres Einsetzen der Menopause könnten auf den Versuch der Fötalzellen zurückgehen, die Ressourcen der Mutter für nur ein Kind zu sichern.
Der Austausch zwischen den Zellen funktioniert in beide Richtungen – der Fötus erhält auch Zellen von der Mutter. Fötalzellen aus mütterlichem Gewebe können die Plazenta-Barriere auch während folgender Schwangerschaften überwinden und die Gesundheit weiterer Nachkommen beeinflussen. Um die Situation zu verkomplizieren, können auch Fötalzellen späterer Nachkommen durch die Plazenta in den Organismus der Mutter gelangen, so dass weitere Mikroschimären untereinander um die Ressourcen der Mutter in Konkurrenz treten.
Fötalzellen könnten künftig ein mächtiges Diagnosewerkzeug sein und für Therapien eine Rolle spielen, etwa bei der Verbesserung der Stillfähigkeit, bei der Wundheilung, der Bekämpfung von Tumoren und womöglich sogar bei der Behandlung von psychischen Störungen während oder nach einer Schwangerschaft.
Dazu ist die Identifikation von Fötalzellen im mütterlichen Verdauungstrakt, in der Leber oder im Gehirn nur ein erster Schritt.
Um die wahre Funktion dieser Zellen zu enträtseln, müssen ihr genetischer Ausdruck und ihre Interkation mit dem mütterlichen Gewebe untersucht werden, etwa ob Immunzellen die Fötalzellen angreifen oder ob normale Epithelzellen im Gewebe friedlich ko-existieren. Dazu sind auch verbesserte Untersuchungsmethoden erforderlich.